Projekt Beschreibung
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Wohlstand, Innovation und Transparenz
Ethik und Unternehmenskultur in der modernen Gesellschaft
Die im Skandal um den Zahlungsdienstleister Wirecard sichtbar gewordene kriminelle Energie hat die deutsche Finanzwelt erschüttert. Wer trägt Verantwortung für diese Manipulationen – und auch für die Nachlässigkeiten? Doch der Skandal führt noch weiter: mittlerweile drängt sich die Frage auf, ob der Fall Wirecard wirklich nur eine Ausnahme darstellt – oder ob der Betrugsfall auch im Zusammenhang mit einem spezifischen unternehmensethischen Selbstverständnis betrachtet werden muss. Zugespitzt gefragt: Hat sich die Unternehmenskultur in Deutschland bisher – jedenfalls in manchen Branchen oder Teilbranchen – vielleicht zu sehr auf das Ideal des Ehrbaren Kaufmanns verlassen und war daher nicht auf die Möglichkeit eines derartigen Betrugs vorbereitet? Gibt es womöglich eine unterschwellige Annahme etwa in der Art, Entrepreneure seien schlicht Einzelkämpfer in einer zunehmend feindseligen globalen Marktwirtschaft? Werden Unternehmen in dieser Sichtweise auf Marktwirtschaft eher zur privaten als zur öffentlichen Sphäre gehörig angesehen – und wird daher der Anspruch auf Transparenz als grundlegend unberechtigt empfunden? Fragestellungen dieser Art könnten Erklärungshilfen für manche Sorglosigkeiten leisten.
Aus der Sicht der Wirtschaftsethik kann man allgemein festhalten: Betrugsfälle wie Wirecard oder Dieselgate stellen ein Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland dar.
Fälle wie diese schaden nicht nur dem Ruf Deutschlands; sie schaden auch dem Ruf der Marktwirtschaft und laufen Gefahr, zur gesellschaftlichen Polarisierung beizutragen. Umso wichtiger ist es, eine Debatte über die Frage zu führen, ob ein Zusammenhang zwischen diesen Betrugsfällen und einer spezifischen Unternehmenskultur besteht, oder ob sich beide Fälle genauso auch in Ländern mit deutlich anderen Unternehmenskulturen (wie etwa in den Niederlanden oder in Großbritannien) hätten ereignen können. Die Frage bleibt nicht aus, ob es bloßer Zufall ist, dass gerade Deutschland – das oft als Land mit einem sehr hohen ethischen Selbstverständnis angesehen wird – innerhalb relativ kurzer Zeit von bereits zwei so spektakulären Betrugsfällen wie dem Wirecard-Bilanzskandal und dem Dieselskandal heimgesucht wird.
Betrugsfälle wie diese müssen in einem breiteren wirtschaftlichen und kulturellen Kontext gesehen werden. Die Zusammenhänge zwischen Kultur, Ethik und einzelnen Ereignissen sind zwar im Einzelnen nicht immer einfach feststellbar. Aber zweifellos hat die spezifische Kultur eines Landes Einfluss auf das Sozialverhalten wie auch auf die Produktivität. Die erwähnten Zusammenhänge und kulturellen Strömungen sollten daher als Denkanstöße zur gesellschaftlichen Debatte und Reflexion dienen.
Wohlstand und Innovation
Die Globalisierung hat die Bedingungen der persönlichen Identitätsbildung verändert. Teilnehmer der globalen Marktwirtschaft nehmen auch am globalen Wettbewerb teil. Das verändert die Vergleichsgrundlage und dadurch den Maßstab für Wohlstand und Erfolg. Diese Tendenz wird durch den technologischen Fortschritt verstärkt. Laut Inko Hoffmann vom Fraunhofer Institut wird exponentielles Wachstum vor allem durch Netzwerkeffekte ermöglicht. So verschaffen die Datenquellen der Silicon Valley -Unternehmen einzelnen Firmen überproportionale Marktanteile. Die durch diese Netzwerkeffekte entstandene Überlegenheit von einzelnen großen Akteuren kann wiederum anderen Firmen den Eintritt in den Markt erschweren und die Erfolgschancen von kleineren Unternehmen reduzieren.
Forschungen zur Zufriedenheit von Menschen ergeben regelmäßig, dass Wohlstand und Erfolg (wie auch Armut) nicht nur absolut, sondern vor allem auch als relativ zum individuellen Erfolgserlebnis und Lebensstandard der Mitmenschen erlebt werden. Die globale Arbeitsteilung führte nicht nur zu einem erwünschten Wachstum der Mittelschichten in Schwellenländern, sondern zumindest teilweise auch zu einer relativen Verarmung von selbst erfolgreichen lokalen Entrepreneuren und Geschäftsleuten in den alten Industriestaaten. Trotz massiver Entwicklung des materiellen Lebensstandards in den industrialisierten Ländern relativiert die Sichtbarkeit des unermesslichen Reichtums einzelner Individuen für so manche den eigenen Wohlstand, auf allen Ebenen der Gesellschaft. Im weltweiten Vergleich erscheinen so Firmen, Gehälter und Vermögen oft kleiner als im lokalen Vergleich.
Es soll hier vermieden werden, der Versuchung zu erliegen, diese relative Verarmung nur als Neid abzutun. Eine sich über Jahrzehnte anbahnende Veränderung wird oft nicht bemerkt, weshalb der veränderte Erfolgsmaßstab seinen Einfluss im Verborgenen ausüben kann.
Zu den essentiellen Grundbedürfnissen eines Menschen gehört es, sich selbst als autonom, kompetent und verbunden zu erleben.
Die Selbst-Erlebnisse eines jeden Einzelnen sind im weitesten Sinne in seinem sozialen Umfeld verwurzelt und von den Auffassungen und Einschätzungen der Mitmenschen abhängig. Eine durch globalen Vergleich entstandene Relativierung des eigenen Erfolgs kann so zu Desillusionierung und Frustration führen.
Diese Beschreibung skizziert die Umstände, die das Betrugsrisiko, sei es als Softwaremanipulation oder als Bilanzfälschung, trotz des starken ethischen Selbstverständnisses erhöhen können. Es ist sogar durchaus möglich, dass das Risiko gerade durch ein spezifisches, zu traditionelles ethisches Selbstverständnis zunimmt. In diesem Fall würden übliche Kontrollmechanismen scheitern, weil Betrug in einer Gesellschaft ehrbarer Kaufleute undenkbar scheint.
Transparenz
Die Frage der Verantwortung für den jüngsten Bilanzbetrug richtete sich zunächst gegen zwei Vorstandsmitglieder von Wirecard. Die Kontrollsysteme, allen voran die Wirtschaftsprüfer von EY, sind aber ebenso spektakulär gescheitert. Überrascht hat dabei vor allem, dass EY bis 2018 Wirecard uneingeschränkte Testate erteilte.
Die Frage der mangelnden Transparenzansprüche kann auch vor dem Hintergrund der intellektuell-politischen Entwicklung Deutschlands verstanden werden. Fundamentale Vorbehalte gegen Wettbewerb und Marktwirtschaft finden sich in Deutschland in weiten Teilen des politischen Spektrums – anders als beispielsweise in den USA, wo eine grundsätzliche Akzeptanz zumindest der alltäglichen Kernmechanismen von Wettbewerb und Marktwirtschaft über den größten Bereich des Spektrums hinweg zu finden ist, selbst in jenen intellektuellen Kreisen, die sich als eher kritisch verstehen.
Die politische und intellektuelle Landschaft Deutschlands ist hingegen seit der Nachkriegszeit tendenziell von einer besonders starken kapitalismuskritischen Stimmung geprägt.
Es ist gut denkbar, dass diese intellektuelle Strömung zu einer Kultur der Unternehmerdiskretion beigetragen hat: Firmen werden danach stark als Privateigentum angesehen und gehören daher eher zur Privatsphäre. Intransparenz wird in diesem Zusammenhang zum Schutzmechanismus gegenüber kritischen gesellschaftlichen Stimmen. Ein Mangel an Transparenz ist dabei zwar sicher nicht mit Betrug gleichzusetzen, jedoch kann die allgemeine Akzeptanz von Intransparenz dem Betrug (und dem Wegsehen) leichter den Boden bereiten.
Unternehmensethik
Die Rechtsstaatlichkeit und das darauf aufbauende Vertrauen haben sich über Jahrzehnte als unverzichtbarer Wettbewerbsvorteil gezeigt. Ein Mangel an gesellschaftlichem Vertrauen untergräbt die Effizienz der Marktwirtschaft und die meritokratischen Mechanismen, die Kompetenz statt Beziehungen belohnen.
Gerade in Zeiten, in denen das europäische Modell einer sozialen Marktwirtschaft von Protektionismus und Staatskapitalismus bedrängt wird, ist es wichtig, diese Rechtsstaatlichkeit als langfristigen Wettbewerbsvorteil zu verstehen; als ein Gut, das geschätzt und gehütet werden muss.
Für die Unternehmen bedeutet das auch, dass eine Kultur von Integrität gestärkt werden muss, die eben nicht nur an einzelnen „ehrbaren Kaufleuten“ hängt, sondern ein System von vielen Maßnahmen darstellt, die erst zusammen Sorge dafür tragen können, dass man Skandale der vorliegenden Art so weit wie möglich verhindert oder zumindest in ihren Auswirkungen stärker begrenzt. Integrität herzustellen und ihre Erfolge auch zu messen ist dabei ein wichtiger Baustein.
Der Fall Wirecard und der Dieselskandal haben nicht nur strukturelle Schwächen offenbart, die jetzt verbessert werden müssen. Sie liefern auch Narrative, die eine Warnfunktion übernehmen – und damit Unternehmensethik in der modernen Gesellschaft nicht nur rational, sondern auch emotional für viele besser nachvollziehbar werden lassen.
24.09.2020
Prof. Dr. Christoph Lütge
Über den Autor…
Dr. Marianne Thejls Ziegler
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